Kindergeschichte über Freundschaft und eine ganz spezielle Drachenpost
Lärmend jagen die Kinder mit ihren Drachen über das abgeerntete Feld. Freudiges Geschrei von Lebenslust dringt an meine Ohren und der Eifer färbt ihre Backen rot. Justin ist einer von ihnen. Mühevoll versucht er seinen großen Tigerdrachen in die Luft zu bekommen, doch es will ihm einfach nicht gelingen.
„Was will den so ein Knirps wie du mit einem so großen Drachen?“, ruft ihm leicht grinsend ein größerer Junge zu. Justin blickt zu ihm hinüber und beißt die Zähne zusammen.
„Dumme Frage“, denkt er sich, „was will man schon mit einem Drachen?“ und versucht einen erneuten Anlauf. Kleine Staubwolken wirbeln in die Luft als Justin über das Feld hastet und auf ausreichend Aufwind hofft.
„Tiger können halt nicht fliegen!“, stichelt der ältere Junge erneut, als der Tigerdrache schlaff zu Boden segelt. Justin schaut sehnsüchtig zum Himmel hinauf. Dort tummelt sich eine muntere Schar von Flugobjekten. Raketen, Ufos und Adler zerren mit größter Kraft an den Schnüren, als ob sie ihre Besitzer mit in den Himmel ziehen wollten. Unzufrieden versetzt Justin einem Erdklumpen einen Tritt und kniet sich erschöpft und mutlos auf den Boden.
„Darf ich auch mal deinen Tiger halten?“ Erstaunt hebt Justin den Kopf und blickt in zwei mandelförmige Augen.
„Du musst deinen Tiger springen lassen, dann klappt es bestimmt!“ Fragend sieht er das Mädchen an.
„Wie soll denn das funktionieren?“, seufzt er zurück.
„Komm, wir machen es gemeinsam. Ich zeige dir, wie es geht und dafür leihst du mir deinen Drachen aus“, antwortet das Mädchen.
„Kein schlechtes Angebot“, meint Justin und ergreift die dargebotene Hand des Mädchens. Nun stehen beide erwartungsvoll auf dem Feld. Seine neue Freundin hält den Drachen hoch, Justin ergreift die Schnur und läuft los.
„Jetzt, spring!“, ruft das Mädchen voller Freude und entlässt den zum Zerreißen angespannten Tigerdrachen in die Lüfte. Justin läuft noch ein Stückchen und tatsächlich, eine Böe ergreift ihren Tiger und trägt ihn hinauf. Der Junge bemerkt die Veränderung, den Zug an der Drachenschnur. Höher und höher sieht man den Gleiter steigen und übermütig peitscht sein gestreifter Schwanz den Himmel.
„Siehst du, Königsdrachen können doch fliegen“, lächelt ihn das Mädchen an.
„Übrigens mein Name ist Mireille. Stehst du nun zu deinem Versprechen?“
„Na klar“ und mit einem Strahlen in den Augen will Justin den Drachen übergeben.
„Nein, ich will nur eine Botschaft schicken!“, und behände holt sie einen kleinen blauen Zettel aus ihrer Hosentasche um ihn an der Schnur zu befestigen. „Himmelsgrüße nennt man das“, antwortet sie leise.
„Das verstehe ich nicht“, meint Justin.
Und Mireille beginnt zu erzählen:
Meine Großeltern lebten in Sumatra. Letztes Jahr wütete dort ein fürchterliches Unwetter, ein Tsunami brach über die Bewohner herein, viele wurden verletzt oder starben. Meine Großeltern wurden nach diesem Unglück nicht wieder gesehen und beide gelten seither als vermisst.“
Traurigkeit klingt aus ihrer Stimme und Justin streichelt verständnisvoll, ganz kurz mit einer Hand über ihren Rücken, mit der anderen hält er den Tigerdrachen fest, der ungeduldig an der Leine zieht.
„Es tut immer noch weh, sie fehlen mir so. Aber es gibt da eine Sache, die mich ein wenig tröstet, das ist die alte Sage von den Beschützern der Himmelspforten“, bemerkt Mireille mit verhaltener Stimme.
„Alle Lebensgeheimnisse, Weisheiten und Erinnerungen werden im Himmel in vielen kleinen, geflochtenen Körben aufbewahrt. Von Zeit zu Zeit wird dort ein Korbdeckel angehoben, und das Wissen kehrt für einen Moment lang auf die Erde zurück. Damit aber keiner diese kostbaren Inhalte stehlen kann, wird der Eingang von fliegenden Tigern bewacht. Sie beobachten aufmerksam alle Boten, die die neuen Nachrichten und Gedanken für die Körbe überbringen und lassen nicht jeden passieren. Deshalb möchte ich mit deinem Tigerdrachen eine Erinnerung über meine Großeltern in den Himmel schicken, damit sie nie in Vergessenheit geraten…“
„Ja, natürlich“, stammelt Justin und erfreut fügt er noch hinzu „Deine Post kommt bestimmt durch das Tor, denn schließlich ist mein Tigerdrache irgendwie mit denen da oben verwandt“.
Eifrig befestigt das Mädchen die Nachricht an der Drachenschnur und in Windeseile flitzt das blaue Blatt nach oben. Wie in einem Fahrstuhl steigt es empor und Justin wickelt die letzten Meter Schnur von der Rolle ab, so als ob er dem Tigerdrachen alle mögliche Unterstützung geben will.
„Ja, hurra“, rufen die Zwei, als die Nachricht mit ihren besten Wünschen im Blau des Himmels verschwindet.
© Heidemarie Andrea Sattler